Erziehung zum Sein (Rebeca Wild)

In einem lebenslangen Lernprozess setzt sich der Mensch mit sich und seiner Umwelt auseinander. Ein ihm innewohnender Wachstums- und Entwicklungsplan steuert dabei in jedem Alter die Interaktion mit der umgebenden natürlichen und kulturellen Welt. Er kommt in vielfältigen, spezifischen Bedürfnissen zum Ausdruck. Die Entfaltung der menschlichen und individuellen Potentiale wird über eine autonome, freie Interaktion innerhalb fester Grenzen, die den Respekt gegenüber dem anderen Mensch, Lebewesen und Gegenstand gewährleisten, und innerhalb einer liebevollen Atmosphäre ermöglicht. Dabei sind mit menschlichen Potentialen die Entscheidungskraft, Intelligenz, Kreativität und soziales Verhalten gemeint.

Sicht des Kindes

Die Persönlichkeit der Kinder zu achten und in ihrer Entfaltung zu unterstützen, ist die erzieherische Grundhaltung in unserer Initiative. Wir verstehen die Kindheit als eigenständige Lebensphase. Jedes Kind verfügt über umfangreiche natürliche Potentiale und daraus resultierend über viele Möglichkeiten. Davon ausgehend wird das Kind im Sinne von Maria Montessori als Baumeister seiner Selbst betrachtet. Es ist neugieriger Forscher und Entdecker, der seine Fähigkeiten ständig erweitert. Seine natürliche Lernfreude und Zufriedenheit stellen sich besonders dann ein, wenn es die Sicherheit eines stabilen, liebevollen Kontaktes zu Erwachsenen vorfindet, die den Entwicklungsplan jedes einzelnen Kindes respektieren – ohne Zwang und Erwartungen. Dies gilt in besonderem Maße auch für Kinder, die besondere Auffälligkeiten zeigen. Jedes Kind kann sein Potential nur dann entfalten, wenn dafür eine seinen Entwicklungsbedürfnissen gemäß entsprechende Umgebung vorbereitet wird. Auf dieser Grundlage verstehen wir Lernen als entdeckendes, selbsttätiges Lernen im sozialen und gegenständlichen Umfeld. Die Kinder gehen ihren eigenen Ideen selbstbestimmt nach und lernen hierbei ihre eigenen Bedürfnisse – auch Lernbedürfnisse- wahrzunehmen und zu respektieren.

Sicht der Bezugspersonen

Die Bezugspersonen schaffen eine liebevolle Atmosphäre, in der sich die Kinder angstfrei und selbständig bewegen können. Sie sind nicht Anleiter und traditionelle Wissensvermittler, sondern vor allem achtsame Beobachter und Zuhörer, die feinfühlig versuchen, die Kinder zu verstehen und zu begleiten. Gemäß dem Leitsatz von Maria Montessori „Hilf mir, es selbst zu tun“ helfen sie den Kindern, eigene Lösungen bei Problemen und Konflikten zu finden. Dabei ist der Respekt vor den Lebensprozessen ohne Manipulations- oder Kontrollabsicht eine Bedingung. Die von den Betreuern eingeforderten Grenzen dienen dazu, jedem einzelnen Schutz zu geben und die Umgebung entspannt zu halten. Den Bezugspersonen obliegt die Aufgabe die vorbereitete Umgebung zu pflegen. Hierzu gehört zunächst einmal durch intensives Beobachten die Bedürfnisse der Kinder zu erfassen und entsprechende Materialien bereitzustellen. Dies beinhaltet auch einen Wechsel bei veränderten Bedürfnissen und in eingeschränkter Form auch bedingt durch den Jahreskreis. Auch dieser Wechsel muss sensibel erfolgen, um allen Kindern weiterhin eine Orientierung zu ermöglichen. Bedarf ein Kind besonderer Unterstützung beispielsweise durch einen Therapeuten, dann arbeiten die Bezugspersonen besonders eng mit diesem und den Eltern zusammen.

Ziele

Als Ziel der Erziehungsarbeit verstehen wir das Mensch Sein, das die Entfaltung aller dem Menschen innewohnenden Potentiale im Respekt vor der ihn umgebenden Welt umfasst. Selbständigkeit, Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen, Entscheidungsfähigkeit und die Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse und Wünsche kennen zu lernen und ausdrücken zu können, sind zentrale Erziehungsziele. Die Kinder sollen Ihre Persönlichkeit entfalten können in Sprache, Kognition, Motorik und Emotion. Im sozialen Kontext steht das respektvolle Miteinander und die gewaltfreie Konfliktlösung im Mittelpunkt.

Vorbereitete Umgebung

Die vorbereitete Umgebung ist ein zentrales Merkmal unseres Kindergartens. Sie bietet die räumlichen Gegebenheiten, die auf die Größe der Kinder, ihren Entwicklungsstand, ihre Interessen und Bedürfnisse abgestimmt ist. Hierbei bietet sie für jedes Kind in jeder Entwicklungsphase das passende Material an. Die Materialien und Spiele sind alle zugänglich bereitgestellt. Wir verstehen unter vorbereiteter Umgebung auch Alltagsumgebung und integrieren viele unstrukturierte Angebote wie einen Fundus an Verkleidung und Alltagsrequisiten wie Taschenlampe und Telefon oder Messbecher und andere Küchenutensilien. Bei aller Materialfülle muss die Umgebung überschaubar sein.

Die Auswahl und den Umgang mit jedem Material und Spiel bestimmt das Kind selbstständig, wobei die Achtung vor den Gegenständen und vor dem Geschaffenen der anderen grundlegend ist. Für jedes Kind muss der Raum für Auseinandersetzung mit dem Material gegeben sein. Dies führt zu einer räumlichen Untergliederung mit Rückzugsmöglichkeiten für verschiedene Bedürfnisse.

Freies Spiel

„Echtes Spiel hat eine geheimnisvolle Beziehung zum Erlebnis der Freiheit. Es beschenkt den Organismus mit einem gesteigerten Lebensgefühl, mit Spannung, Freude, Verzweiflung oder tiefer Befriedigung. Wenn Kinder spielen, wissen wir, dass sie gesund sind. Spielen ist für sie gleichbedeutend mit lebendig sein.“
(aus: Rebeca Wild: Freiheit und Grenzen – Liebe und Respekt. 1993, S. 126)

Denkt man die vorbereitete Umgebung konsequent dann bestimmt sie zwangsläufig den großen Stellenwert des „freien Spiels“ in unserer Einrichtung. Jedes Kind bestimmt selbstständig, ob, mit wem und was es spielt. Zeitlich wird das Spiel durch ein allgemeines Ende der Spielzeit, die Aufräumzeit und das gemeinsame „Rausgehen“ bestimmt. So lernt das Kind, seinen Bedürfnissen zu folgen. Die Erzieherinnen beteiligen sich grundsätzlich nicht am Spiel, sondern bleiben als Beobachter des kindlichen Spiels außerhalb der Spielhandlung.